
Neue Organe für die Asselspinne
ie Asselspinne Pycnogonum litorale besitzt außergewöhnliche regenerative Fähigkeiten: Sie kann nicht nur Beine neu bilden, sondern am hinteren Körperende auch vollständige Rumpfsegmente mit inneren Organen wie Muskulatur, Darm und Geschlechtsorganen. Das hat eine Gruppe von Evolutionsbiologen der Universitäten Wien, Greifswald und Berlin herausgefunden. Die Forscher um den Wiener Zoologen Georg Brenneis vermuten, dass dieses Regenerationspotenzial ein ursprüngliches Merkmal der Gliederfüßer gewesen sein könnte.
Die artenreichste Tiergruppe unseres Planeten, die Gliederfüßer, also Insekten, Krebse und Spinnentiere, sind von der Natur mit einer phänomenalen Eigenschaft ausgestattet worden. Viele ihrer Vertreter sind in der Lage sind, ihre Gliedmaßen zu regenerieren. Teile der Körperhauptachse, also des Rumpfes, jedoch verfügen nicht über diese Regenerationsfähigkeit.
Es gibt jedoch einen Vertreter, der genau dieses Potential hat. In einer neuen Studie untersuchten der Evolutionsbiologe Georg Brenneis und seine Kollegen die Regenerationsfähigkeit der meeresbewohnenden achtbeinigen Asselspinne Pycnogonum litorale. Über mehrere Monate dokumentierten die Biologen die unterschiedlichen Entwicklungsstadien von 23 Tieren, denen verschiedene Beinpaare und hintere Körperteile entfernt worden waren. Sie analysierten die nachfolgende Entwicklung der äußeren Gestalt und der inneren Organe mit Hilfe von Fluoreszenzmikroskopie und Röntgen-Mikro-Computertomographie und visualisierten sie mittels digitaler 3D-Rekonstruktion.
Erwachsenes Tier nach vollständiger Regeneration des dritten rechten Beines sowie des gesamten letzten Rumpfsegmentes mit dem vierten Beinpaar und Körperende. Abbildung: Georg Brenneis
Erstaunlicherweise zeigten die Tiere eine beeindruckend hohe Überlebensrate, selbst nach schwerwiegenden Verletzungen. Bei fast allen noch nicht voll ausgereiften Individuen kam es zu einer vollständigen oder nahezu vollständigen Regeneration der fehlenden Körperteile. „Das betraf nicht nur die Neubildung von Gliedmaßen“, sagt Georg Brenneis. „Es bildeten sich fast vollständige hintere Rumpfsegmente mit Muskulatur und Mitteldarmschläuchen, der hinterste Körperanhang mit Enddarm und Anus, sowie fehlende Elemente der Geschlechtsorgane neu.“
Da Asselspinnen eine alte evolutionäre Linie der Gliederfüßer sind, glauben die Forscher, dass ihr Regenerationspotenzial ein ursprüngliches Merkmal der Gliederfüßer gewesen sein könnte. Diese Regenerationsfähigkeit könnte auch zum Erfolg ihrer beeindruckenden evolutionären Diversifizierung beigetragen haben.
Die enormen regenerativen Fähigkeiten einiger Tiergruppen inspirieren Mediziner und Biologen nicht zuletzt, weil ein besseres Verständnis dieser Prozesse von großem Interesse für die regenerative Medizin ist. Bis heute wird in der Evolutionsforschung diskutiert, weshalb die Fähigkeit, verlorene Körperstrukturen zu regenerieren, bei einigen Tieren stark ausgeprägt ist, während sie bei anderen nur eingeschränkt vorhanden ist, wie zum Beispiel bei den Säugetieren, inklusive des Menschen.
Originalpublikation:
Georg Brenneis, Karina Frankowski, Laura Maaß, Gerhard Scholtz.
The sea spider Pycnogonum litorale overturns the paradigm of the absence of axial regeneration in molting animals
doi.org/10.1073/pnas.2217272120