
Lichtlawinen im Nanoformat
anchmal ist es ein kleiner Zufall, der große Dinge bewirken kann. Natalie Fardian-Melamed und ihre Kolleg:innen vom Schuck Lab an der Columbia University in New York haben gemeinsam mit Forschenden vom Lawrence Berkeley National Lab winzige Nanopartikel entwickelt, mit denen sich Kräfte messen lassen. Sie basieren auf einem Prozess, der dem einer Schneelawine ähnelt – allerdings auf der Ebene von Lichtteilchen. Die Studie wurde im Fachmagazin „nature“ veröffentlicht.
Ob wir Trampolin springen, mit dem Rad fahren oder einen Nagel in die Wand schlagen – unsichtbare Kräfte begleiten uns im Alltag auf Schritt und Tritt. Doch Kräfte umgeben uns nicht nur in der für uns wahrnehmbaren Welt. Auch auf der mikroskopisch kleinen Ebene unserer Zellen wirkt eine Vielzahl von winzigen, mechanischen Kräften, die unsere biologische Maschinerie steuert – von der Zellteilung bis zur Muskelkontraktion. Diese Kräfte sind der Schlüssel, um diese biologischen Prozesse zu verstehen und könnten den Weg für die Entwicklung neuer Medikamente ebnen.
Helfen könnten dabei in Zukunft winzige Nanopartikel, die Forschende der Columbia University in New York und des Lawrence Berkeley National Labs entwickelt haben. Mit einer Größe von nur wenigen zehn Nanometern – etwa tausendmal kleiner als der Durchmesser eines Haares – besitzen diese gleich zwei Eigenschaften, die man sich für die Messung solcher Kräfte wünscht.
Zum einen lässt sich mit den Partikeln eine große Bandbreite an Kräften messen – von extrem schwach bis verhältnismäßig groß, über zehntausend Mal so stark. Das ist als könnte man mit einem einzigen Lineal sowohl den Durchmesser einer Münze als auch die Länge eines Fußballstadions präzise messen. Interessant ist das für Vorgänge, bei denen viele verschiedene Kräfte zum Einsatz kommen – bei der Entwicklung eines Embryos zum Beispiel.
Die große Bandbreite ist aber für sich alleine noch nicht so spektakulär. Es gibt bereits andere Messmethoden, die dazu auch in der Lage sind. Die haben allerdings einen entscheidenden Nachteil: Um Kräfte zu messen, benötigen diese in der Regel irgendwelche sperrigen Anhängsel wie Drähte oder ähnliches. Das macht es schwierig, diese Sensoren in lebendige Organismen einzubringen oder dort Messungen durchzuführen.
„Das ist das Schöne hier”, erklärt Natalie Fardian-Melamed, die Erstautorin der kürzlich im Fachmagazin „nature“ veröffentlichten Publikation, „dass wir mit Licht arbeiten.” Denn die Nanopartikel lassen sich sowohl mit Licht ansteuern als auch auslesen – man kann sie also aus der Ferne bedienen.
Die Lichtteilchen-Lawine kan man sich „ähnlich einer Schneelawine" vorstellen. "Wir haben eine winzige Störung, die zu etwas Großem, etwas Drastischem führt.”, erklärt die Forscherin Fardian-Melamed. Foto: Krzysztof Kowalik on Unsplash
Die neuen Sensoren beruhen auf einem Prozess, der sich auf Englisch „photon avalanche” nennt. Übersetzt bedeutet das „Lichtteilchen-Lawine”. „Wie der Name schon sagt, handelt es sich dabei um eine Lawine”, so Fardian-Melamed, „ähnlich einer Schneelawine. Wir haben eine winzige Störung, die zu etwas Großem, etwas Drastischem führt.”
Bei diesem Phänomen setzt ein einzelnes Lichtteilchen – ein Photon – eine Kettenreaktion in Gang, bei der am Ende eine Vielzahl weiterer Photonen freigesetzt werden. In großen Kristallen wurde dieses Phänomen bereits vor mehr als vierzig Jahren entdeckt. Seit 2021 ist bekannt, dass dies auch in den deutlich kleineren Nanokristallen auftreten kann. Voraussetzung für den Lawinenprozess ist, dass in die Kristalle geladene Fremdatome eingebaut werden. Die jüngste Erkenntnis: Mechanische Kräfte können diesen Prozess beeinflussen – und somit zur Kraftmessung genutzt werden.
Dabei war diese Entdeckung ein reiner Zufall. „Es begann als Unfall”, erinnert sich Fardian-Melamed.
Eines Tages macht die Physikerin im Labor eine Kontrollmessung mit den Nanopartikeln. Sie will testen, ob Kraft das optische Signal der Nanopartikel beeinflussen kann. Mithilfe eines Rasterkraftmikroskops drückt die Forscherin auf eines der winzigen Teilchen. Zu ihrer Überraschung verändert sich das optische Signal des Partikels deutlich mehr als erwartet.
„Ich meine, jetzt ist das aufregend”, erklärt die Forscherin heute. „Aber in dem Moment konnte ich es nicht glauben. Ich hab gedacht ‚Nein, nein, das kann nicht wahr sein!’”
Die unerwartete Beobachtung droht zum damaligen Zeitpunkt, ihre geplanten Experimente mit den Nanopartikeln zu durchkreuzen. Zunächst hofft die Wissenschaftlerin deshalb, es handle sich um einen vorübergehenden Störfaktor – möglicherweise ein Effekt, der durch das Material der Spitze des Rasterkraftmikroskops verursacht wird. Um Klarheit zu gewinnen, führt das Team eine Reihe weiterer Messungen durch.
Doch egal, was die Forschenden damals verändern: Der Effekt bleibt. Immer mehr kristallisiert sich eine Vermutung heraus: Könnte die Krafteinwirkung den Lawinenprozess beeinflussen? Aus dem anfänglichen Problem wittern die Wissenschaftler:innen eine Chance. Sollte die Hypothese stimmen, ließen sich die Nanopartikel vielleicht zu Kraftsensoren umfunktionieren.
Der Durchbruch kommt etwas später. Es sind Ferien. Natalie Fardian-Melamed sitzt im Labor. Alleine, im Dunkeln. „Niemand war im Labor, niemand war im Gebäude”, erinnert sie sich, „und dann habe ich auf eines dieser Teilchen gedrückt. Und oh mein Gott, in all der Dunkelheit war plötzlich Licht und es wurde immer heller und heller und heller.”
Es ist die Bestätigung ihrer Vermutung: Der Lawinenprozess in den Nanoteilchen hängt tatsächlich von der Krafteinwirkung ab. Und es ist der Startschuss für die Weiterentwicklung der Teilchen zu Kraftsensoren – die je nach Konfiguration anders agieren: Manche werden heller, wenn man auf sie drückt. Andere werden dunkler. Wiederum andere wechseln die Farbe.
Auf lange Sicht erhoffen sich die Forschenden, dass ihre Nanopartikel Beispiel in lebenden Organismen zum Einsatz kommen. Auch für technische Anwendungen, wie die Optimierung von Batterien, könnten sie nützlich sein.
Aktuell arbeitet das Team daran, die Nanopartikel weiter zu verbessern und sie unempfindlich zu machen, indem es zum Beispiel selbstkalibrierende Funktionen hinzufügt und ihre Reaktion auf andere Umweltreize wie die Temperatur untersucht.
Originalpublikation:
Fardian-Melamed, N., Skripka, A., Ursprung, B. et al.
Infrared nanosensors of piconewton to micronewton forces08 January 2025
Nature 637, 70–75 (2025)
doi.org/10.1038/s41586-024-08221-2