Architektur im Rampenlicht
Die griechisch-orthodoxe Kirche St. Nicholas in New York erstrahlt zwischen mächtigen Wolkenkratzern. | © © Alan Karchmer/OTTO

Architektur im Rampenlicht

12. September 2024 | von Thorsten Naeser

In der Nacht leuchten die großen Städte der Erde. Kunstlicht taucht Straßen, Plätze und Gebäude der Metropolen in eine fast schon surrealistische Atmosphäre. Vor allem zur blauen Stunde, erstrahlen Gebäude in einem stimmungsvollen Beleuchtungs-Mix aus Kunstlicht und Restlicht des Tages. Das zeigt sich eindrucksvoll an den markanten Gebäuden, die Santiago Calatrava entworfen hat. Der international gefeierte Architekt versteht es meisterhaft, Formen und Strukturen von Häusern, Brücken oder Kunstwerken in einer Symbiose aus Kunstlicht und Tageslicht in Szene zu setzen. Das beweisen die Architekturfotografien, die Calatrava in seiner neuen Werkschau präsentiert, die jetzt als Bildband erschienen ist.

Sehen und Licht sind untrennbar verbunden. Das Mysterium des Sehens und Wahrnehmens beschäftigt seit Tausenden von Jahren Philosophen und Wissenschaftler. Architekten aller Kulturen versuchen seit jeher, das Licht in ihre Planung und Gestaltung mit einzubeziehen. Kaum war das Kunstlicht erfunden, begann man wichtige Gebäude aus dem nächtlichen Grau der Städte durch gezielte Beleuchtung hervorzuheben. Die großen Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts waren das Experimentierfeld der modernen Architektur-lllumination: So wurde 1889 in Paris der gerade errichtete Eiffelturm in der Nacht zum „Leuchtturm“. Ab den 1920er Jahren avancierte die Beleuchtung nächtlicher Fassaden zum Planungsbestandteil von Architekten. Sie suchten nach avantgardistischen, technischen und ästhetischen Lösungen für die Großstädte.

Der Pavillon der VAE auf der Dubai Expo 2020. © Palladium Photodesign/Oliver Schuh + Barbara Burg

Heute spricht man von „Architainment“, wenn man ein Beleuchtungskonzept besonders ausfeilt. Dann hat man es zumeist mit Lichtinstallationen zu tun, die Bauwerke in Szene setzen und sich optisch von ihrer Umgebung absetzen. „Das elektrische Licht hat die Architektur grundlegend verändert - viel mehr noch als Stahl, Glas und Beton. Hier liegt die wirkliche Moderne“, brachte es einst der amerikanische Architekt Douglas Haskell auf den Punkt.

Architektur lebt vom Licht. Santiago Calatrava ist einer derjenigen, der das Zusammenspiel aus Licht und Form perfekt inszeniert. Weltweit hat er sich mit einfallsreicher Architektur einen Namen gemacht. Vom Olympischen Sportkomplex in Athen 2004 bis zum World Trade Center Transportation Hub in Manhattan beweist er ein sensibles Gespür für das Zusammenspiel von Ästhetik, Struktur Lichteinfall und Beleuchtung. Calatrava schöpft seine Inspiration aus den unterschiedlichsten Quellen: Auguste Rodins Umgang mit Skulptur und Architektur sowie die Prinzipien des Klassizismus und der griechischen Kykladenkunst. Auch die Natur, für ihn Mutter und Lehrmeisterin, und das Raumfahrtdesign der NASA zieht ihn in seinen Bann. Calatravas Werke sind zugleich aerodynamisch und organisch.

Fußgänger- und Radfahrerbrücke Calgary, Kanada. Bekannt als die Friedensbrücke. © Alan Karchmer/OTTO

Doch eines fällt besonders auf, wenn man Calatravas neueste Werkschau in Form eines opulenten Bildbandes das TASCHEN Verlags zur Hand nimmt: Viele seiner Gebäude wirken leicht, ja manchmal durchaus geheimnisvoll, wenn sie von der abendlichen Kunstlichtbeleuchtung in den Fokus gerückt werden.

Da erstrahlt die griechisch-orthodoxe Kirche St. Nicholas in New York zwischen mächtigen Wolkenkratzern. Das durchsichtige Gebäude leuchtet förmlich göttlich von innen. Beeindruckend erschient auch die Friedensbrücke im kanadischen Calgary zu fortgeschrittener Stunde. Das Kunstlicht betont die ungewöhnliche Form, die tagsüber nicht so markant ins Auge sticht. Ein Meisterwerk ist auch der Pavillion der Vereinigten Arabischen Emirate auf der EXPO 2020 in Dubai. Am frühen Abend erstrahlt er in sanften Pastelltönen, die sehr an die einzigartigen Lichtstimmungen in Wüstenregionen erinnern.

Originalpublikation:

Calatrava. Complete Works 1979–Today

TASCHEN Verlag, Köln

ISBN 978-3-8365-8709-9

200.- Euro