Der Mann, der das Licht fühlte
„Die letzte Fahrt der Temeraire“ ist eines der berühmtesten Werke, das William Turner im Jahr 1839 malte. | © Turner, J. M. W. (London, Tate Britain)

Der Mann, der das Licht fühlte

16. August 2016 | von Thorsten Naeser

Anfang des 19. Jahrhunderts verstand man aus physikalischer Sicht immer besser was es mit Licht auf sich hat. Das spiegelte sich in der Malerei und später in der Fotografie wieder. Einer, der Licht malen konnte wie kein zweiter, war William Turner.

Sanft schlagen die Wellen gegen die schwarze Gondel, gemächlich schaukelt sie auf dem Canal Grande mitten in Venedig. Der Gondoliere versucht die Barke so ruhig wie möglich zu halten. An einem lauen Abend im Spätsommer 1819 ergießt sich das Abendlicht sanft und in rotgoldenen Farben über den Kanal. Mit schnellen Bleistift-Strichen skizziert William Turner was er sieht, imposante Paläste ehrwürdige Kirchen mit ihren verspielten Fassaden und Schiffe, die gemächlich über das Wasser gleiten. Kaum länger als fünf Minuten brauchte Turner für so eine Skizze. Doch was er danach daraus zauberte, gehört heute mit zu den bekanntesten Gemälden der Welt. William Turner fühlte das Licht. Während er vermeintlich fahrige Skizzen in einer schaukelnden Gondel anfertigte, prägten sich tief in sein Innerstes die Lichtstimmungen ein. Er fügte sie nachträglich in seine Skizzen ein, er flutete seine Bilder mit Licht, und schuf damit einzigartige Kunstwerke. Venedig besuchte Turner dreimal in seinem Leben und jedes Mal schwärmte er wieder von den schnell wechselnden Lichtabstufungen über dem Wasser der Lagune.

Ortswechsel nach England, zwanzig Jahre später: Wieder leuchtet der Himmel in weichen Rot-Gelb-Tönen über dem Wasser der Themse. Mittendrin zwei Schiffe, ein kleiner Dampfer, der ein großes Segelschiff abschleppt. Das Wasser schimmert bläulich, melancholisch. Das Bild „Die letzte Fahrt der Temeraire“ ist wohl eines der berühmtesten Werke, das William Turner im Jahr 1839 malte. Im Jahr 2005 wurde es in einer BBC-Umfrage zum Greatest Painting in Britain gewählt.

William Turner (geb. 1775) malte Licht, er ließ es in allen Farben des Spektrums erstrahlen und ließ in ihm Strukturen verschwimmen; er wurde damit zu einem der berühmtesten Maler der Kunstgeschichte. Schon mit 14 Jahren war er ein Stipendiat an der Royal Academy of Arts und stellte nur ein Jahr später sein erstes Bild aus. Doch Turner entwickelte sich zu einem schwierigen Zeitgeist. Er war ein Egomane, ein wortkarger Einzelgänger, er war schrullig und exzentrisch. Aber wie kein zweiter verstand er es, das Licht und Naturstimmungen in seinen Bildern einzufangen. Gefühlvoll verewigte er das strahlende Gleißen des Himmels über Venedig genauso wie das Gold des Sonnenuntergangs über dem Rheintal bei Heidelberg. Er hielt den historischen Moment fest, in dem das fauchende Feuer sich erbarmungslos durch das Parlamentsgebäude in London frisst. Schemenhaft malte er eine Eisenbahn während sie über eine in flimmerndes, Licht getauchte Brücke dampfte. Die Sehnsucht nach Wasser mit seinen geheimnisvollen Spiegelungen ließ ihn sein Leben lang nicht los. Und er malte Rom mit seinen unzähligen Lichtstimmungen in mehr als 2000 Skizzen und Gemälden in markanten Erd- und Ockertönen.

Turners extrem feinfühligen Gemälde spiegeln so ganz und gar nicht seinen Gemütszustand wider. Turner spuckte auf seine Bilder, er war dafür berühmt-berüchtigt. Er benutzte selbst produzierte Farben wie ein eigenartiges, braunes Pulver. Keiner weiß so genau was er darin so alles zusammengemischt hatte. Er war ein Getriebener, man sah ihn nur selten ruhig vor seiner Staffelei.

Turners spätere Werke wurden durch eine Naturkatastrophe mit beeinflusst. Im Jahr 1815 brach im Pazifik der Vulkan Tambora aus. Seine Staubpartikel wurden um die ganze Welt in die Atmosphäre getragen und es kam zu einer weltweiten Klimaabkühlung. Doch durch die Staubpartikel veränderten sich auch dramatisch die Sonnenauf- und Untergänge in Europa. Denn durch die winzigen Teilchen brach sich das Licht bei seinem Durchgang durch die Atmosphäre öfters als sonst, womit das blaue Licht fast ganz herausgefiltert wurde und nur die langwelligeren Strahlungsanteile die Erde und damit die Augen der Menschen erreichten. Damit waren die Sonnenauf- und untergänge zu dieser Zeit unvergleichlich prächtig. In allen Schattierungen von Rot, Orange und Violett, gelegentlich auch in Blau- und Grüntönen verzierten sie den Himmel. Und genau das spiegelte sich auch in den Werken Turners wider.

Zu Turners Zeiten verstand man auch aus physikalischer Sicht immer besser was es mit dem Licht auf sich hat. Die Menschen beschäftigten sich mit Naturphänomen und wollten mehr wissen was es auf sich hat mit dem Stoff ohne den das Leben auf der Erde nicht möglich ist. Naturwissenschaft und Technik gewannen immer mehr an Bedeutung. Im Jahr 1826 gelang es Joseph Nicéphore Niépce das Licht zum ersten Mal dauerhaft auf Papier mit einer Kamera festzuhalten. Er fotografierte den Blick aus seinem Arbeitszimmer und brauchte dafür acht Stunden. Heraus kam ein unscharfes Schwarz-Weiß-Bild. Die Fotografie war also für Turner noch keine Konkurrenz. Er traf mit seinen Bildern das Zeitgefühl, denn er beschäftigte sich nicht nur mit der bloßen Natur, sondern setzte sie in Zusammenhang mit der einsetzenden Industrialisierung und Technisierung. Er schärfte die Wahrnehmung von Lichteinfall und kleinsten Helligkeitsunterschieden. Turner gilt als einer der bedeutendsten Theoretiker zu Farbthemen in seiner Zeit: Er studierte die Farbwirkungen und begann Komplementärfarben nebeneinander zu setzen. Im Jahr 1851 starb Turner und vermachte sein gesamtes Werk, über 300 Ölbilder, 20.000 Zeichnungen und Aquarelle, dem britischen Staat. Jeder konnte nun sehen, wie Turner Licht fühle.